gesellschaft

Haiti: "Das Land braucht in jeder Hinsicht einen Neustart" - Interview zum Wiederaufbau nach der Erdbebenkatastrophe
Von Matthias Widder, NachrichtenFormat.de

(nf/maw/31.03./20.02.10) Die Lage in Haiti ist nach wie vor geprägt von großer Not. Die Menschen in dem vom Erdbeben zerstörten Land kämpfen mit Obdachlosigkeit und Hunger. Vielerorts herrschen immer noch Chaos und Verzweiflung. Hilfsorganisationen arbeiten intensiv daran, die Situation schrittweise zu verbessern und einen nachhaltigen Wiederaufbau in Angriff zu nehmen. Ein wichtiges Signal der Hoffnung kommt nun von der internationalen Geberkonferenz in New York mit Hilfszusagen in Milliardenhöhe. Über die Lage in Haiti und die Herausforderungen des Wiederaufbaus sprach NachrichtenFormat.de bereits im Februar mit Silvia Holten vom Kinderhilfswerk World Vision. Ihre Aussagen sind aktueller denn je. 

NachrichtenFormat.de: Frau Holten, sehr viele Menschen haben bei der Erdbebenkatastrophe ihr Heim verloren. Unter welchen Bedingungen leben diese Menschen jetzt?

Silvia Holten: Viele Betroffene leben zurzeit in einem der 350 Zeltlager, die sich überall im Erdbebengebiet gebildet haben. Die hygienischen Zustände dort sind schlecht. Es drohen Krankheiten. Die Versorgung mit Nahrung und Wasser wurde mittlerweile zwar verbessert. Jetzt benötigen die Menschen aber dringend Notunterkünfte, Zeltplanen und sanitäre Einrichtungen.

Jüngsten Schätzungen zufolge sind bei dem Erdbeben am 12. Januar knapp 100.000 Häuser komplett zerstört und fast 200.000 Häuser beschädigt worden. Von schätzungsweise 1,3 Millionen Haitianern, die Notzelte brauchen, ist bisher nur ein Viertel versorgt. Die Regenzeit steht kurz bevor. Dafür brauchen hunderttausende Familien zumindest Schutzplanen. Die internationale Hilfsgemeinschaft wird entsprechend weiteres Material zur Verfügung stellen. World Vision verteilt zunächst etwa 3.000 Notbauten, die später in dauerhafte Unterkünfte umgewandelt werden können.

Mit welchen Schwierigkeiten kämpfen Ihre Mitarbeiter vor Ort?

Die größten Herausforderungen sind der Transport von Hilfsgütern, die Kommunikation und die Sicherheitslage. Der Flughafen von Port-au-Prince ist nach wie vor überlastet, der Transportweg von der Dominikanischen Republik nach Haiti ebenfalls. Die Verladung von Hilfsgütern ist mühsam. Wichtig ist auch, dass die Trümmer möglichst bald beseitigt werden, um Raum für Ansiedlungen zu schaffen. In einem „cash-for-work“-Programm beschäftigen die Vereinten Nationen mehr als 60.000 Menschen für Aufräumarbeiten.

Experten haben darauf hingewiesen, dass die landwirtschaftliche Basis im Land zu schwach ist, um die Ernährung der Bevölkerung aus eigener Kraft zu sichern. Sie warnen deshalb vor einer drohenden Hungersnot. Wie gut funktioniert derzeit die Nahrungshilfe und wie sieht es im Bereich der medizinischen Versorgung aus?

Das Welternährungsprogramm und die  Partnerorganisationen, darunter auch World Vision, haben seit Beginn der humanitären Nothilfe nach dem Erdbeben in Haiti mehr als 3,4 Millionen Menschen mit Nahrungsmitteln versorgt. 850.000 Menschen bekommen täglich rund fünf Liter Wasser. Zur medizinischen Versorgung hat Haitis Gesundheitsministerium kostenlose Medikamente und Behandlungen zugesagt.

Allein World Vision hat bisher insgesamt eine halbe Million Menschen versorgt und setzt die Verteilung von Lebensmitteln, Planen, Moskitonetzen, Hygienesets und Kochutensilien fort. In den Zeltlagern setzen wir darüber hinaus zehn mobile Kliniken zur Gesundheitsversorgung ein. In sieben Camps errichten unsere Helfer Latrinen und schulen die Bewohner bezüglich Hygiene.

Wir sorgen uns besonders um die Ernährung der Kinder. Hier müssen die internationalen Bemühungen verstärkt werden. UNOCHA, der Humanitäre Zweig der UN, spricht nach wie vor von einer angespannten Ernährungssituation.  

Viele Kinder sind in einer verzweifelten Lage, weil sie ihre Angehörigen verloren haben. Welche Art von Unterstützung brauchen sie am dringendsten?

Die Kinder, die bei dem Erdbeben von ihren Familien getrennt worden sind, müssen registriert, aufgenommen und betreut werden. UNICEF und World Vision kümmern sich und suchen Familienangehörige. Zum Schutz von Kindern haben wir inzwischen auch sechs Kinderbetreuungszentren eingerichtet; mittelfristig sollen 22 zur Verfügung stehen. In Gemeinderäumen oder Großzelten können Mädchen und Jungen unterkommen. Sie werden von geschultem Personal medizinisch und psychisch betreut. Sie können sich dort von ihren Verletzungen erholen oder mit Gleichaltrigen spielen, um ihre schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten.

Über die akute Not hinaus ist die langfristige Perspektive für Haiti sehr wichtig. Wo sehen Sie die Schwerpunkte für einen nachhaltigen Wiederaufbau?


Haiti hatte schon vor dem Erdbeben schwache Strukturen: unzureichende politische Führung, Korruption und Armut waren die Kennzeichen. Nach der Katastrophe liegt das Land am Boden und braucht fast in jeder Hinsicht einen Neustart. Der Wiederaufbau von Wohnhäusern, Schulen und Krankenhäusern ist nur eine von vielen wichtigen Aufgaben. Dabei müssen wir darauf achten, die neuen Gebäude erdbebensicher zu gestalten, weil Experten weitere Beben für möglich halten.

Darüber hinaus ist es wichtig, auch die gesellschaftlichen Infrastrukturen im Land aufzubauen: Gesundheitssystem und Bildungssystem müssen wieder funktionieren. Wir müssen die Ernährung sichern, indem wir zum Beispiel die Landwirtschaft stärken. Und wir müssen den Familien eigene Einkommen ermöglichen, so dass sie selbst den Weg aus der Armut finden. Das alles muss die internationale Gemeinschaft zusammen mit der haitianischen Regierung und den Menschen in Haiti anpacken. Nur dann haben wir eine Chance, dass sich die Lebenssituation im Land nachhaltig verbessert.

Die Welle der Unterstützung für Haiti ist bisher enorm. Rechnen Sie damit, dass Interesse und Hilfsbereitschaft allmählich abflauen?

Es ist völlig normal, dass die öffentliche Aufmerksamkeit nach einigen Wochen nachlässt. Das haben wir bei  anderen Katastrophen auch erlebt, und das ist auch nachvollziehbar, weil das Leben in Deutschland natürlich weitergeht und andere Themen in den Vordergrund rücken.

Die Anteilnahme der Deutschen am Schicksal der Haitianer ist dennoch beeindruckend. Wir bekommen immer noch Infos über Spendenaktionen, die Schulen, Vereine und Privatpersonen für Haiti auf die Beine gestellt haben. Es ist außerdem schön zu sehen, dass viele auch an eine langfristige Hilfe für Haiti denken. Wir haben Anfragen, vor allem von Unternehmen, die sich beim langfristigen Wiederaufbau engagieren möchten.

Um den Menschen jedoch eine nachhaltige Perspektive zu geben, wird weiterhin viel Geld benötigt, um den Wiederaufbau so gestalten zu können, dass es den Menschen hinterher wirklich besser geht als vor der Katastrophe.

Sie haben die Möglichkeit von Aufbaukooperationen für Unternehmen angesprochen. In welcher Form können solche Projekte realisiert werden?

Dabei handelt es sich um zeitlich und finanziell definierte Hilfsprojekte von World Vision in verschiedenen Bereichen des Wiederaufbaus. Zu nennen sind hier beispielsweise der Bau von Unterkünften, der Bereich Wasserversorgung mit Brunnenaufbau und sanitären Anlagen, der Aufbau von Schulen und Gesundheitsstationen und vor allem die Einrichtung von Kinderzentren.

Für Haiti legen wir zurzeit fest, welche dieser genannten Projekte wir konkret umsetzen werden. Sie können dann von Unternehmen finanziert werden. Die Firmen, die sich engagieren, erhalten regelmäßig Projektberichte. In der Regel ist eine rein finanzielle Förderung sinnvoll. Nur in Ausnahmefällen kommen Sachspenden zum Einsatz, da benötigte Güter grundsätzlich vor Ort eingekauft werden.

Experten gehen davon aus, dass der Wiederaufbau Haitis drei bis fünf Jahre in Anspruch nehmen wird. Welche Ziele sind aus Ihrer Sicht in dieser Zeitspanne zu erreichen?


In drei bis fünf Jahren werden hoffentlich die meisten der jetzt betroffenen Familien wieder ein festes Dach über dem Kopf haben. Insgesamt muss es unser Ziel sein, das Land besser aufzustellen als es vor dem Erdbeben da stand, nämlich mit funktionierenden Sozialsystemen, weniger Korruption, weniger Armut. Wenn wir nur den Zustand erreichen, der vor der Katastrophe bestand, haben wir nicht gut gearbeitet.

Wir bedanken uns für das Gespräch.

Kurzprofil World Vision:

World Vision Deutschland e.V. ist ein christliches Hilfswerk mit den Arbeitsschwerpunkten nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe und entwicklungspolitische Anwaltschaftsarbeit. Im Jahr 2009 wurden 239 Projekte in 48 Ländern durchgeführt. World Vision Deutschland ist Teil der weltweiten World Vision-Partnerschaft. World Vision unterhält offizielle Arbeitsbeziehungen zur Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) und arbeitet eng mit dem Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) zusammen. World Vision Deutschland ist Mitglied der Bündnisse „Aktion Deutschland Hilft“ und "Gemeinsam für Afrika".

Hinweis der Redaktion: Für den Inhalt der Interviewaussagen ist der angegebene Gesprächspartner verantwortlich. NachrichtenFormat gibt keine Gewähr für Aktualität, Vollständigkeit und Richtigkeit.

Infolink zu World Vision
Fragen zum Interview:
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