wirtschaft

Mindestlohn: Experten warnen vor Ausnahmeregelungen - Zwei Millionen Menschen würden laut Studie "leer ausgehen"
(nf/red/27.01.14) Ursprünglich stand die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn, der in Deutschland flächendeckend und umfassend eingeführt werden sollte - inzwischen ist das politische Tauziehen um weitreichende Ausnahmeregelungen in vollem Gange. In die Debatte eingeschaltet hat sich jetzt auch das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung. Die Experten vom WSI warnen eindringlich davor, bestimmte Gruppen wie etwa Minijobber, Rentner, Studenten oder Aufstocker vom Mindestlohn auszuschließen. Sollte es dennoch so kommen, gingen rund zwei Millionen Menschen - weit mehr als ein Drittel aller Geringverdiener - "leer aus", da für sie die angepeilte Lohnuntergrenze von 8,50 Euro pro Stunde nicht greifen würde. Das WSI befürchtet für diesen Fall erhebliche Verdrängungseffekte und die Entstehung eines neuen Niedriglohnbereichs am untersten Ende der Skala: Unternehmen könnten Beschäftigte mit Mindestlohn massenhaft durch solche ohne Mindestlohn ersetzen. Die Ausgrenzung ganzer Arbeitnehmergruppen würde den eigentlichen Zweck einer Mindeslohnregelung unterlaufen, nämlich den Schutz aller abhängig Beschäftigten, mahnt das WSI.

Originaltext des WSI:

+++ Gut 5 Millionen Beschäftigte in Deutschland verdienen weniger als 8,50 Euro pro Stunde. Würde die Bundesregierung Forderungen nach Ausnahmen vom Mindestlohn nachgeben, erhielten 2 Millionen dieser Niedriglohnbeschäftigten keinen Mindestlohn - und es könnte zu problematischen Verdrängungseffekten auf dem Arbeitsmarkt kommen. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung.

Nach den Plänen der Großen Koalition soll ab 2015 in Deutschland ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn gelten. Aktuell mehren sich allerdings Forderungen von Politikern und Arbeitgeberverbänden nach Ausnahmeregelungen für bestimmte Arbeitnehmergruppen. Sollten sich diese Forderungen durchsetzen, würde der Mindestlohn zum "Schweizer Käse", zeigt eine Analyse des WSI. Die Forscher berechneten auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels, wie viele Menschen mit einem Arbeitsverhältnis (also ohne Praktikanten oder Auszubildende) von solchen Ausnahmen betroffen wären. Ergebnis: Im Jahr 2012 lag der Stundenlohn von rund 5,25 Millionen Beschäftigten unterhalb von 8,50 Euro. Gälte der Mindestlohn nicht für Minijobber, Rentner, Schüler, Studenten und hinzuverdienende Arbeitslose, gingen 2 Millionen oder 37 Prozent der Geringverdiener leer aus. Ohne Ausnahmen für geringfügig Beschäftigte wäre es immer noch fast ein Viertel.

Damit würde der allgemeine Mindestlohn systematisch unterlaufen und ein neuer, eigener Niedriglohnsektor geschaffen, warnt Dr. Reinhard Bispinck, der Leiter des WSI. Die Ausgrenzung ganzer Arbeitnehmergruppen würde den eigentlichen Zweck der Regelung unterlaufen, nämlich den Schutz aller abhängig Beschäftigten. Laut einer Expertise des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages können Ausnahmeregelungen sogar gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz verstoßen.

Die Ausnahmen würden sich der WSI-Studie zufolge stark auf einige wenige Branchen konzentrieren: Knapp 56 Prozent aller Minijobber und 52 Prozent aller erwerbstätigen Rentner, Schüler und Studenten mit Stundenlöhnen unter 8,50 Euro arbeiten entweder im Gastgewerbe, dem Einzelhandel, den unternehmensnahen Dienstleistungen oder den "sonstigen Dienstleistungen" wie beispielsweise Wäschereien oder das Friseurgewerbe. In diesen vier Branchen sind von denjenigen, die weniger als den Mindestlohn verdienen, zwischen 35 und 40 Prozent geringfügig beschäftigt und zwischen 7 und 25 Prozent Rentner, Schüler oder Studenten.

Die Auswirkungen von gesetzlichen Lohnuntergrenzen seien mittlerweile gut erforscht, so Bispinck. Zahlreiche Studien hätten gezeigt, dass keine negativen Beschäftigungseffekte zu erwarten sind. Dagegen seien die Folgen weitgehender Ausnahmen für den Arbeitsmarkt nicht absehbar. Es bestehe die Gefahr, dass es zu erheblichen Verdrängungs- und Substitutionseffekten kommt, dass Unternehmen also Beschäftigte mit Mindestlohn durch solche ohne Mindestlohn ersetzen. "Der allgemeine Mindestlohn ist ein sinnvolles Instrument, um Fehlentwicklungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt und bei der Lohnentwicklung einzudämmen", sagt Bispinck. "Aber dazu muss er auch wirklich für alle Arbeitsverhältnisse gelten."

+++

Infolink zur Originalquelle

Hinweis der Redaktion: Für die Inhalte dokumentierter Originaltexte und extern verlinkter Seiten sind die jeweiligen Anbieter bzw. Autoren verantwortlich.
 
 

Datenschutzhinweis
NachrichtenFormat.de sammelt und verarbeitet keine personalisierten Nutzerdaten, kann aber nicht ausschließen, dass Webdienste, mit denen der Betrieb des Portals verbunden ist, dies tun, etwa über die Verwendung von Cookies. Durch die Nutzung von NachrichtenFormat.de stimmen Sie dem zu. Mehr
Recherche

Suchwort eingeben
und Thema auf
NachrichtenFormat.de
recherchieren: 


Hier geht's zur Suche!

Meistgesucht: Flüchtlinge /
Schuldenkrise / Arbeitsmarkt /
Konjunktur
/ Klimawandel

Themen
Konjunktur
Absturz 2020 weniger hart
Corona
Globale Bildungskrise 
Scholz und die SPD
Wille zur Macht
Forscher warnen
Kommt die "Heißzeit"?
Brexit
Zug nach Nirgendwo?

Buchtipps
Alternde Gesellschaft
Keine Panik?
Netzkultur
Neue Entpolitisierung
DDR
Opportunismus und
Selbstbehauptung
Generationen
Nach uns die Sintflut?
Digitalisierung
Datennehmer und Datengeber