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Europa: Soziale Gerechtigkeit in vielen EU-Ländern auf dem Rückzug - Zunehmendes Nord-Süd-Gefälle - Schieflage zwischen Alt und Jung - "Zukunft des europäischen Integrationsprojekts gefährdet"
(nf/red/15.09.14) Innerhalb Europas wird die Kluft zwischen armen und reichen Staaten immer größer. Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung. Deutlich verschärft hat sich demnach die soziale Schieflage zwischen den wohlhabenden Staaten im Norden und den Krisenländern im Süden. So sei es etwa in Griechenland, Italien oder Spanien nicht gelungen, die Lasten der Krisenbewältigung gerecht zu verteilen. Die Folge: Insbesondere die jüngere Generation habe heute unter zunehmender sozialer Ungerechtigkeit - verbunden mit Arbeitslosigkeit, Armut und Ausgrenzung - zu leiden. Vor diesem Hintergrund warnt die Stiftung vor wachsenden Spannungen und einem erheblichen Vertrauensverlust. Europa drohe die soziale Spaltung, die Zukunft des europäischen Integrationsprojekts sei in Gefahr. Der Bundesrepublik bescheinigt die Studie zwar leichte Verbesserungen. Dennoch sei auch Deutschland gefordert, "seine wirtschaftliche Stärke in mehr soziale Gerechtigkeit zu übersetzen".

Originaltext der Bertelsmann Stiftung:

+++ Europa macht leichte Fortschritte bei der wirtschaftlichen Stabilisierung, das Niveau an sozialer Gerechtigkeit aber hat in den letzten Jahren in den meisten EU-Staaten abgenommen. Dabei hat sich die soziale Schieflage zwischen den wohlhabenden Staaten Nordeuropas und zahlreichen süd- und südosteuropäischen Ländern im Zuge der Krise deutlich verschärft. Während in Schweden, Finnland, Dänemark und den Niederlanden nach wie vor ein hohes Maß an sozialer Teilhabe verwirklicht ist, hat die soziale Ungerechtigkeit in Ländern wie Griechenland, Spanien, Italien oder Ungarn zugenommen. Vor allem in den Krisenstaaten der EU ist es nicht gelungen, die teils massiven Einschnitte sozial gerecht aufzuteilen. Dies ist das Ergebnis eines ersten vergleichenden Gerechtigkeitsindex für alle 28 EU-Staaten, den die Bertelsmann Stiftung heute veröffentlicht.

Als besonders kritisch sieht die Analyse neben dem Nord-Süd-Gefälle auch ein wachsendes Ungleichgewicht zwischen den Generationen: Danach sind jüngere Menschen tendenziell stärker von sozialer Ungerechtigkeit betroffen als ältere. 28 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind EU-weit inzwischen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, deutlich mehr als noch 2009 (26,1 Prozent). Im Gegensatz dazu ist die Altersarmut in manchen Ländern zurückgegangen. "Die wachsende soziale Kluft zwischen den Mitgliedstaaten und zwischen den Generationen kann zu Spannungen und einem erheblichen Vertrauensverlust führen. Sollte die soziale Schieflage andauern oder sich weiter verstärken, gefährdet dies die Zukunft des europäischen Integrationsprojekts", so Stiftungsvorstand Dr. Jörg Dräger.

Im Vergleich dazu hat Deutschland hingegen geschafft, was kaum einem anderen EU-Staat während der Krise seit 2008 gelungen ist: Die soziale Gerechtigkeit ist gestiegen. Der leichte Aufwärtstrend geht insbesondere auf die robuste Entwicklung am Arbeitsmarkt zurück, drückt sich aber auch in anderen Bereichen wie Bildung, Integration oder Gesundheit aus. Trotz der zu beobachtenden Verbesserung und einem siebten Gesamtplatz unter allen 28 EU-Staaten erreicht die größte Volkswirtschaft Europas allerdings in vielen wichtigen Bereichen nur eine Platzierung im Mittelfeld.

Am Arbeitsmarkt schlägt positiv zu Buche, dass die Langzeitarbeitslosigkeit in den vergangenen Jahren reduziert werden konnte. Deutschland hat zudem mit 7,9 Prozent EU-weit die geringste Jugendarbeitslosigkeit, und auch die Erwerbsintegration älterer Arbeitnehmer ist in den vergangenen Jahren erheblich gestiegen. Im Bildungsbereich zeigen sich ebenfalls leichte Verbesserungen: So ist die Quote frühzeitiger Schulabgänger seit 2007 von 12,5 auf 9,9 Prozent gesunken. Beim europäischen Vergleich zur "Bildungsgerechtigkeit" komme Deutschland aber dennoch nicht über einen 14. Rang hinaus, so die Studie. Der Zusammenhang zwischen sozialem Hintergrund und Bildungserfolg sei noch immer viel zu groß. Diese Chancenungleichheiten gelte es abzubauen, zum Beispiel durch weitere Investitionen in qualitativ hochwertige frühkindliche Bildung. Im Bereich Gesundheit (Rang 10) punktet Deutschland zwar durch die hohe Qualität der medizinischen Versorgung, dennoch ist die Anzahl der hierzulande zu erwartenden "gesunden Lebensjahre" im EU-Vergleich unterdurchschnittlich (Rang 23). Schließlich sei auch das Auseinanderdriften der Einkommen in den vergangenen Jahren wieder etwas zurückgegangen. Allerdings liegt Deutschland hier weiterhin nur auf Rang 13.

Trotz der relativen Verbesserungen in einigen Teilbereichen sieht die Studie für Deutschland noch erhebliches Verbesserungspotential. Jörg Dräger verweist beispielhaft auf die noch immer bestehenden Herausforderungen am Arbeitsmarkt: "Deutschland muss in Zukunft größere Anstrengungen unternehmen, um seine wirtschaftliche Stärke in mehr soziale Gerechtigkeit zu übersetzen. Die Verfestigung eines zweigeteilten Arbeitsmarktes ist kritisch. Deutschland sollte insbesondere die Übergänge von atypischer Beschäftigung zu Normalarbeitsverhältnissen erleichtern", so Dräger. Die Einführung eines gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohns sei dabei ein erster korrektiver Schritt.

Eine grundlegende Erkenntnis der Vergleichsstudie für alle EU-Staaten sei, dass wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zwar eine wichtige Voraussetzung, aber auch kein automatischer Garant für soziale Gerechtigkeit sei. Das Thema soziale Gerechtigkeit sollte daher nach Ansicht der Stiftung künftig deutlich stärker ins Zentrum der europäischen Politik rücken. Die EU dürfe nicht nur als Hüter wirtschaftlicher Stabilität wahrgenommen werden. Sie sollte künftig eine integrierte Strategie entwickeln, die neben der bisherigen Wachstumsperspektive auch erstmals eine konsistente und vollständige Politik zur Bekämpfung sozialer Ungerechtigkeit umfasst. Für die Mitgliedstaaten wiederum müsse es noch mehr darauf ankommen, die richtigen Weichenstellungen zwischen weiterhin notwendiger Haushaltskonsolidierung und wichtigen Zukunftsinvestitionen vorzunehmen. Denn Investitionen in die Teilhabechancen sind nicht nur aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit sinnvoll. Sie sind auch für das Innovationspotential eines Landes unerlässlich.

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