gesellschaft

Großprojekte: Sind Kostenexplosionen vermeidbar? - Negativbeispiele BER und Elbphilharmonie - Studie zeigt Fehlerketten auf - "Wirksam gegensteuern"
(nf/red/20.05.15) Fehlplanungen, voreilige Vertragsabschlüsse, dilettantische Projektsteuerung - die Liste der öffentlichen Großprojekte, die zeitlich und finanziell auf frappierende Weise aus dem Ruder gelaufen sind, ist lang. Dabei zählen Elbphilharmonie oder BER zweifellos zu den unrühmlichsten Beispielen. Muss sich die Allgemeinheit an gigantische Kostenexplosionen und jahrelange Verzögerungen gewöhnen oder geht es auch anders? Dieser Frage ist die Hertie School of Governance nachgegangen. In einer entsprechenden Studie kommt die Hochschule zu dem Ergebnis, dass Verkehrsprojekte im Schnitt um 33 Prozent und öffentliche Gebäude um 44 Prozent teurer werden als ursprünglich veranschlagt. Extreme Kostensteigerungen um das Fünf- bis Elffache sind laut der Untersuchung im Sektor der Informations- und Kommunikationstechnologie zu finden. Die Studie zeigt jedoch auch, dass es immer noch Großprojekte gibt, die durchaus im Plan bleiben. Die Forscher mahnen: Durch Großprojekte mit explodierenden Kosten drohe die Politik an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Die vorliegende Studie zeige nun, dass man wirksam gegensteuern könne.

Originaltext der Hertie School of Governance:

+++ Wenn die Kosten bei öffentlichen Großprojekten aus dem Ruder laufen, so wurden entscheidende Fehler oft bereits in der Vorplanungsphase und bei der Projekt-Governance gemacht. Das zeigen Fallstudien zum Berliner Flughafen BER (125 Prozent Kostenüberschreitung) und zur Elbphilharmonie (146 Prozent). Deren Autor Prof. Dr. Jobst Fiedler erklärt: „In beiden Fällen hätte ein Großteil der Kostenüberschreitungen nicht mehr verhindert werden können, nachdem die Projektorganisation falsch aufgesetzt und Verträge auf unzureichender Planungsbasis geschlossen waren.“ Die Fallanalysen sind Bestandteil der Studie „Großprojekte in Deutschland – zwischen Ambition und Realität“ unter der Leitung von Prof. Dr. Genia Kostka, Hertie School of Governance. Kostkas Fazit: „Durch Großprojekte mit explodierenden Kosten droht die Politik an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Unsere Forschungen zeigen, dass man wirksam gegensteuern kann.“

BER: Muster-Negativbeispiel

Die BER-Fallstudie analysiert zehn aufeinander aufbauende Fehler: Mit der Flughafengesellschaft Berlin-Brandenburg (FBB) wurde eine nicht ausreichend kompetente Einrichtung mit dem Projekt betraut, der ein Aufsichtsrat ohne das notwendige Fachwissen zur Seite gestellt wurde. Kein unabhängiges, externes Controlling wurde installiert, das Fehlentscheidungen hätte anzeigen können. Der Verzicht auf einen Generalunternehmer verlagerte das finanzielle Risiko zu 100 Prozent auf den Steuerzahler. Die Aufteilung in viele kleine Gewerke führte zu einem exorbitanten Steuerungsaufwand, der wiederum von Anfang an gleichzeitiges Planen und Bauen erforderlich machte.

Die Vielzahl von Planänderungen, die Koordinierungsprobleme, insbesondere bei der Brandschutzanlage, der unzureichende Informationsfluss und das „Chaosmanagement“ rund um den geplatzten Eröffnungstermin im Juni 2012 sind Folgen der verfehlten Governance-Entscheidungen weit vor dem ersten Spatenstich. Sie führten zu einer Kostensteigerung von 2,5 Mrd. Euro auf bislang 5,4 Mrd. Euro und zu einer Zeitüberschreitung von 200 Prozent (7,5 statt 2,5 Jahre). „Aus einer Governance-Perspektive ist der BER ein Muster-Negativbeispiel. Während bei anderen Projekten oft deren Neuartigkeit zu höheren Kosten führt, etwa durch die Anwendung wenig erprobter Technologien, ist der BER – von der Brandschutzanlage abgesehen – ein Standard-Großprojekt. Mit externem Sachverstand und einer zeitlich und finanziell ausreichend bemessenen Planungsphase hätten sämtliche Fehler vermieden werden können“, so Fiedlers Fazit.

Elbphilharmonie: Selbstüberschätzung der Verantwortlichen

Die Hamburger Elbphilharmonie - mit Kosten von 865 Mio. Euro statt der geplanten 352 Mio. Euro und einer Zeitüberschreitung von sieben Jahren (200 Prozent) bei einer geplanten Fertigstellung 2017 – weist einen teilweise vergleichbaren Fehlermix auf: Eine untaugliche Projektorganisation mit zu wenig Fachwissen, zu hoher politischer Einflussnahme und einem verfrühten Vertragsabschluss, was ebenfalls gleichzeitiges Planen und Bauen nach sich zog.

Ein unabhängiges Controlling fehlte auch hier. Das finanzielle Risiko übernahm die öffentliche Hand in unnötigem Ausmaß. „Die Elbphilharmonie ist kein Standard-Projekt, sondern zählt durch die aufwändige Architektur zu den generell risikoreicheren sogenannten Signature-Projekten. Planung und Organisation wurden diesem Anspruch aber in keiner Weise gerecht. Die Fehlerspirale wurde in erster Linie durch Selbstüberschätzung der Verantwortlichen und entsprechend überambitionierte Zielvorstellungen in Gang gesetzt“, urteilen die Autoren der Fallstudie Jobst Fiedler und Sascha Schuster.

IKT-Projekte werden oft teurer

Verglichen mit den Ergebnissen der Gesamtstudie, die 170 Großprojekte erfasst, sind die Kostenüberschreitungen in beiden Fällen weit überdurchschnittlich. Zum Vergleich: Verkehrsprojekte werden im Schnitt 33 Prozent teurer und öffentliche Gebäude 44 Prozent. In diesen Sektoren gibt es allerdings auch eine Reihe von Projekten, die im Plan bleiben oder den geplanten Kostenansatz sogar unterschreiten. Auf der Liste der „sparsamsten Top 10“ finden sich ausschließlich Verkehrs- und Gebäude-Projekte. Am anderen Ende der Skala fanden Genia Kostka und ihr Team teilweise Kostenüberschreitungen um das Fünf- oder sogar Elffache, insbesondere im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT): Vier unter den zehn Projekten mit der prozentual höchsten Kostenentwicklung sind diesem Bereich zuzuordnen. Kostka: „Unser Befund, dass IKT-Projekte häufiger um ein Vielfaches teurer werden als geplant, deckt sich mit internationalen Studienergebnissen. Um die Ursachen genau zu analysieren, bedürfte es weiterer Forschungen.“

Empfehlungen

Um die Probleme in den Griff zu bekommen, empfehlen die Forscher vier Schritte: Erstens eine ausreichende Einbeziehung in die Aufsichts- und Steuerungsgremien von Personen mit Kompetenz in der Privatwirtschaft und im Bau. Zweitens müssten öffentliche Bauherren Projektpartner mit hoher Expertise in die Projektorganisation einbeziehen, um gegenüber privaten Baufirmen auf Augenhöhe agieren zu können. Drittens die Verbesserung des Risikomanagements durch die Einbeziehung privaten Kapitals, entweder durch finanzielle Mitbeteiligung an einer Realisierungsgesellschaft oder durch Beauftragung eines Generalunternehmers. Schließlich muss in jedem Fall eine ausreichende Planungstiefe vor der Auftragsvergabe erreicht sein, da Planänderungen regelmäßig hohe Kosten nach sich ziehen.

Darüber hinaus machen Genia Kostka und ihr Team Vorschläge, wie die Transparenz über Baurealisierung und Kosten verbessert werden kann. So empfehlen sie den Aufbau einer öffentlich zugänglichen Datenbank, in der große Infrastrukturprojekte systematisch erfasst und ausgewertet werden nach dem Vorbild der britischen Major Project Authority. Außerdem sollte in der öffentlichen Planung eine Referenzklassenprognose eingesetzt werden. Die sich daraus ergebenden sektorspezifischen Referenzklassen kalkulieren für Projekte einen “Risiko-Aufschlag” für potentielle Kostensteigerungen.

Weitere Informationen

Für die Studie „Großprojekte in Deutschland – zwischen Ambition und Realität” unter der Leitung von Genia Kostka, Professorin für Governance von Energie und Infrastruktur, wurden 170 in Deutschland seit 1960 realisierte Großprojekte erfasst und analysiert, darunter 119 abgeschlossene und 51 noch laufende Projekte. In den Bereichen öffentliche Gebäude, Verkehr, Energie, Rüstung sowie Informations- und Kommunikationstechnologie untersucht die Studie erstmals systematisch geplante und tatsächliche Kosten. Drei detaillierte Fallstudien zum Berliner Großflughafen BER, zur Elbphilharmonie sowie zu Offshore-Windparks ergänzen die Untersuchung.  

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