gesellschaft

Causa Böhmermann: Kluge Diplomatie sieht anders aus
Von Matthias Widder, NachrichtenFormat.de

Was wiegt schwerer? Die guten Beziehungen zwischen Kanzlerin Merkel und Präsident Erdogan oder die im Grundgesetz garantierte Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland? Für die Berliner Regierungschefin ist die Sache klar: Sie befürwortet ein Strafverfahren gegen den Satiriker Böhmermann wegen eines Schmähgedichts auf das türkische Staatsoberhaupt. Damit überantwortet Merkel die Angelegenheit der Justiz - und lässt dem Verlangen des offenkundig zornigen Erdogan zugleich freien Lauf. Womöglich hofft sie, ihn auf diese Weise zu beschwichtigen, um am Ende ihre widersprüchliche Flüchtlingspolitik mitsamt dem fragwürdigen EU-Türkei-Deal zu retten.

Dies mag man als realpolitisches Zugeständnis bewerten. Doch Merkel hat eine Hemmschwelle durchbrochen. Die Folgen könnten verheerend sein. Denn die "Ermächtigung" zur Strafverfolgung Böhmermanns dürfte vielerorts als Legitimierung der breit angelegten Kampagne verstanden werden, mit der Erdogan tausendfach gegen Kritiker im eigenen Land vorgeht. Jetzt reicht sein Arm also auch bis nach Deutschland und damit mitten in die Europäische Union hinein. Weder die EU-Partner, noch die westlich orientierten demokratischen Kräfte in der Türkei werden es Merkel danken. Ihnen hat sie einen Bärendienst erwiesen. Erdogan - wie auch andere Autokraten dieser Welt - dürften sich in ihren Einschüchterungsstrategien gegenüber kritischen Öffentlichkeiten im In- und Ausland bestätigt fühlen.

Unabhängig davon, wie sich die Causa Böhmermann-Erdogan weiter entwickelt: Eines hat der türkische Staatschef mit tatkräftiger Hilfe der deutschen Kanzlerin wohl schon erreicht. Manche Publizierende - ob Autoren, Journalisten, Redakteure, Moderatoren, Filmemacher, Karikaturisten oder Satiriker - werden sich von nun an möglicherweise gut überlegen, ob sie in ihrer täglichen Arbeit "respektvoll" genug mit Mächtigen dieser Welt umgehen oder vielleicht eine Klage riskieren. Derartiges nennt man "Schere im Kopf", gleichsam der Anfang vom Ende der Meinungsfreiheit.

Wo die Berliner Politik versagt hat, muss jetzt die Justiz einspringen. Es geht um nichts Geringeres, als das Recht auf freie Meinungsäußerung - auch in drastischen Ausdrucksformen - gegen jene zu verteidigen, die Kritik grundsätzlich nicht akzeptieren wollen. Unbestritten bleibt: Wer sich persönlich verunglimpft sieht, kann hierzulande jederzeit Klage erheben - jedoch sollte die explizite Billigung durch eine bundesdeutsche Regierung dabei keine Rolle spielen, auch wenn ein Staatsoberhaupt involviert ist. Vor dem Gesetz ist schließlich jeder gleich. Das stärkste Signal wäre deshalb, wenn die zuständigen Behörden Ermittlungen in Zusammenhang mit dem antiquierten Paragrafen 103 erst gar nicht aufnehmen oder mögliche Verfahren - wegen Nichtigkeit - wieder einstellen.

Inmitten des Dickichts einer ausufernden Affäre wird das Ausmaß der Absurdität erst wieder klar, wenn man auf den Ausgangspunkt zurückgeht: Es war ein witzig-bissiges, aber keineswegs beleidigendes Musikvideo über Erdogan im NDR-Magazin extra-3: eine Petitesse in einem freien Land mit freien Medien, für die sich der deutsche Botschafter gegenüber Ankara allerdings rechtfertigen musste. Was folgte war Böhmermanns mehr oder weniger gelungener Schmähbeitrag, Merkels öffentliche Rüge und eine beispiellose Eskalation, die in der Ermächtigungs-Entscheidung nunmehr ihren traurigen Höhepunkt erreicht hat. Kluge Diplomatie sieht anders aus. Wie moderierte Satiriker Christian Ehring seine gestrige extra-3-Ausgabe nicht ohne einen kaum merklichen Anflug von leiser Melancholie ab? "Hey, nicht böse sein. War doch nur Satire."

(Erstellt: 15.04.2016)

Hinweis für Redaktionen: Beitrag gegen Honorar frei zur Übernahme
 

 

Datenschutzhinweis
NachrichtenFormat.de sammelt und verarbeitet keine personalisierten Nutzerdaten, kann aber nicht ausschließen, dass Webdienste, mit denen der Betrieb des Portals verbunden ist, dies tun, etwa über die Verwendung von Cookies. Durch die Nutzung von NachrichtenFormat.de stimmen Sie dem zu. Mehr
Recherche

Suchwort eingeben
und Thema auf
NachrichtenFormat.de
recherchieren: 


Hier geht's zur Suche!

Meistgesucht: Flüchtlinge /
Schuldenkrise / Arbeitsmarkt /
Konjunktur
/ Klimawandel

Themen
Konjunktur
Absturz 2020 weniger hart
Corona
Globale Bildungskrise 
Scholz und die SPD
Wille zur Macht
Forscher warnen
Kommt die "Heißzeit"?
Brexit
Zug nach Nirgendwo?

Buchtipps
Alternde Gesellschaft
Keine Panik?
Netzkultur
Neue Entpolitisierung
DDR
Opportunismus und
Selbstbehauptung
Generationen
Nach uns die Sintflut?
Digitalisierung
Datennehmer und Datengeber