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Politisches Klima: Forscher fürchten Rückbau der demokratischen Kultur durch "enthemmte Mitte" - Neue Studie
(nf/red/15.06.16) Angesichts einer zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft warnen Forscher vor einem möglichen Erstarken antidemokratischer Strömungen in Deutschland. Das Potenzial für rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien sei größer als bisherige Wahlergebnisse dies zeigten, stellen Wissenschaftler der Universität Leipzig auf Basis einer neuen Studie fest. Darin haben sie untersucht, inwieweit rechtsextreme Einstellungen in der Bevölkerung verankert sind. Ergebnis: Zwar wendet sich eine deutliche Mehrheit klar gegen rechtsextremes Denken, es gibt jedoch eine rechtsgerichtete Minderheit, die einerseits immer radikaler wird, andererseits mehr und mehr zur Gewalt neigt. Laut Studie könnte diese Gruppe weiteren Zulauf erhalten, vor allem aus den Reihen der Politikverdrossenen und Nichtwähler, wo rechtsextreme Einstellungen und Vorurteile offenbar überproportional vertreten sind.

Originaltext der Universität Leipzig:

+++ Die politische Einstellung der deutschen Bevölkerung ist polarisiert. Während eine deutliche Mehrheit der Gesellschaft rechtsextremes Denken und auch Gewalt zum Teil strikt ablehnt und Vertrauen in demokratische Institutionen hat, sind Menschen mit rechtsextremer Einstellung immer mehr bereit, zur Durchsetzung ihrer Interessen Gewalt anzuwenden. Dies ist eines der zentralen Ergebnisse der Studie "Die enthemmte Mitte", die PD Dr. Oliver Decker und Prof. Dr. Elmar Brähler vom Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig in Kooperation mit der Heinrich Böll-, der Otto Brenner- und der Rosa Luxemburg-Stiftung durchgeführt und heute in Berlin vorgestellt haben.

Die Wissenschaftler befragten bundesweit 2.420 Menschen (West: 1.917, Ost: 503) zu den Themen Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus, Chauvinismus und Verharmlosung des Nationalsozialismus. Sie gliederten die Antworten in sechs soziologische Milieus.

"Es gibt zwar keine Zunahme rechtsextremer Einstellungen, aber im Vergleich zur Studie vor zwei Jahren befürworten Gruppen, die rechtsextrem eingestellt sind, stärker Gewalt als Mittel der Interessensdurchsetzung", sagt Decker. Zudem habe bei diesen Gruppen das Vertrauen in gesellschaftspolitische Einrichtungen wie die Polizei oder Parteien deutlich nachgelassen. "Sie fühlen sich vom politischen System nicht repräsentiert", erläutert er. Als Erfolg der Zivilgesellschaft könne man es dagegen ansehen, dass in demokratischen Milieus Gewalt deutlich stärker abgelehnt wird als 2014. "Beides steht in Deutschland nebeneinander: Wir haben Menschen, die sich aktiv um Flüchtlinge bemühen, und es gibt Menschen, die Flüchtlinge aktiv ablehnen", sagt der Studienleiter. Damit habe eine deutliche Polarisierung und Radikalisierung stattgefunden.

Die Radikalisierung zeigt sich auch bei der Einstellung zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen. "Die Ablehnung von Muslimen, Sinti und Roma, Asylsuchenden und Homosexuellen hat noch einmal deutlich zugenommen", konstatiert Brähler. 49,6 Prozent der Befragten sagten zum Beispiel, Sinti und Roma sollten aus den Innenstädten verbannt werden. 2014 waren 47,1 Prozent dieser Meinung. 40,1 Prozent erklärten, es sei ekelhaft, wenn sich Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssten (2011: 25,3 Prozent). Und 50 Prozent gaben an, sich durch die vielen Muslime manchmal wie ein Fremder im eigenen Land zu fühlen. 2014 waren dies noch 43 Prozent. "Die gesellschaftlichen und rechtlichen Entwicklungen, wie etwa das liberalere Staatsbürgerrecht, der letzten Jahre in Deutschland, wird nicht von allen Teilen der Bevölkerung getragen", erklärt der Leipziger Sozialpsychologe.

Sichtbar wird diese Einstellung bei Anhängern von Pegida, die Decker als "neurechte Bewegung" sieht. "Wer Pegida befürwortet, ist zumeist rechtsextrem und islamfeindlich eingestellt und sieht sich umgeben von verschwörerischen, dunklen Mächten", sagt er. Alter, Bildungsanschluss oder Haushaltseinkommen spielten dagegen keine Rolle. Zu Tage bringt die Leipziger Studie auch, dass die Wähler der Alternative für Deutschland (AfD) nicht als von der Partei verführte Menschen gelten können. 84,8 Prozent der AfD-Wähler gaben beispielsweise an, Probleme zu haben, wenn sich Sinti und Roma in ihrer Nachbarschaft aufhalten; 89 Prozent meinten, Sinti und Roma neigen zur Kriminalität. "Die meisten AfD-Wähler teilen eine menschenfeindliche Einstellung", sagt Brähler. Auch in der Gruppe der Nicht-Wähler sind diese Vorurteile sehr verbreitet. "Das Potenzial für rechtsextreme oder rechtspopulistiche Parteien ist noch größer als es die Wahlergebnisse bislang zeigen", sagt er.

Die Unterschiede in der rechtsextremen Einstellung zwischen Ost- und Westdeutschland sind der Studie zufolge nicht so groß. Als ausländerfeindlich gelten im Osten 22,7 Prozent der Befragten, 19,8 Prozent im Westen (bundesweit 20,4 Prozent). Allerdings unterscheiden sich die Ergebnisse Ost und West je nach Altersgruppe, besonders bei den zwischen 14- und 30-Jährigen. Im Osten sind 23,7 Prozent dieser Altersgruppe ausländerfeindlich, im Westen nur 13,7 Prozent. "Das ist gefährlich, Einstellungen können latent sein oder manifest geäußert werden, aber sie bleiben über die Zeit stabil", sagt Decker. Wer jetzt rechtsextreme Ansichten habe, werde diese noch einige Jahre vertreten. Zudem sei ein Großteil der jungen Menschen bereit, Gewalt anzuwenden.

(...)

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